Was genau ist The Proposal aktuell und was gilt es da noch zu diskutieren? Das Thema Standard- und Extended Applications ist es nicht. Gleichwohl greifen wir die Stichworte auf und sprechen über die zu Grunde liegenden Callerlab Dokumente, die aus sich heraus ergeben, dass wir vielleicht manchmal die Begriffe mit eigenem Denken ausfüllen, das so in der Allgemeinheit eine ganz andere Bedeutung hat - Stichwort: Judgement.
Mitwirkende
Martin Kull
Peter Höfelmeyer
Shownotes
- Wir greifen ein Thema aus den Kommentaren auf
- Standard Application – Extended Application
- Aktuelle Diskussionsthemen vs. Fokus von „The Proposal“
- Die Grundidee zu Standard Applications
- Aufgabe ist, das zu Callen, was die Tänzer tanzen (können)
- Standard Application ist k e i n e Beschränkung
- Das Wissen um Standard Applications ist eine Kompetenz
- Es ist Grundlage für die Judgement-Kompetenz
- Weitere Kompetenzen, die zum Tanzerfolg führen
„Alle Dinge sind Gift, und nichts ohne Gift, allein die Dosis macht dass ein Ding kein Gift ist.“ (Paracelsus 1493 – 1541)
Auf der Seite https://callerlab.org/dance-programs/basic-and-mainstream/ finden ihr folgende Dokumente:
- Basic Standard Applications
- Mainstream Standard Applications
Zum Thema passende vorherige Folgen:
Hallo ihr 2,
ein guter Hinweis, die Dinge nacheinander abzuarbeiten. Viele Caller (aber auch Tänzer) haben tatsächlich Angst, dass ihnen etwas weggenommen wird. Allerdings halte ich den (vorausschauenden) Blick auf eine mögliche Figurenliste für sinnvoll, damit den Callern klar wird, dass „mit diesen ca. 50 Figuren“ ein interessanter Clubabend möglich ist. Und nicht nur der nächste, sondern alle folgenden Tänze. Hier ist es wichtig, dass in der Liste folgende Figuren enthalten sind:
1. Klassische Figuren (ohne diese ist SD nicht „denkbar“)
2. Figuren, bei denen die Tänzer Spaß haben
3. Figuren, die für eine schöne Choreografie erforderlich sind
(4. Figuren, die „leicht“ erlernbar sind
5. ……….)
Ich habe hier im Norden eine Abfrage gestartet, in der jeder Teilnehmer „seine“ 50 Figuren benennen soll und habe bereits einige „interessante“ Rückmeldungen bekommen. Mein Plan ist es, dies am 1.9. vorzustellen, in der Hoffnung, dass bis dahin viele Rückmeldungen gekommen sind.
Wer daran teilnehmen möchte, kann mir eine Mail schicken (clauswarnecke@web.de). Ich versende dann eine einheitliche Liste, in der die jeweiligen Figuren angekreuzt werden können, damit ich sie dann in der Gesamtheit auswerten kann.
Liebe Grüße
Claus
Hallo Ihr Beiden,
ich hatte mir lange überlegt, ob ich mich zu diesem Thema äußere oder nicht, denn ich will grundsätzlich keine schlechte Stimmung heraufbeschwören. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich festhalten, dass ich nicht viel von dem proposal halte und ihn daher nicht unterstützen würde.
Ich war mehr als 20 Jahre aktives Callerlab-Mitglied und habe mich hauptsächlich im MS und Plus Committee engagiert. Als das große Thema T-2000 (target 2000) aufkam, war ich entsetzt. Man kann sich trefflich darüber streiten, ob es die Art und Weise war, wie man sich auf eine für mich so hoffnungslose Mission begeben hat. Das Ziel mag damals durchaus dem entsprochen haben, welches auch durch den proposal verfolgt werden soll. Ich habe damals nichts von der Durchsetzungsfähigkeit gehalten und so bin ich zurzeit ebenfalls aufgestellt.
Der poposal, so wie er von Ted Lizotte vorgestellt wurde, stellt zunächst pur darauf ab, die Programme umzugestalten. Der Grundgedanke, so hoffe ich zumindest, dass dieser weiterhin das Maßgebliche sein soll, ist es, ein kleineres Einstiegslevel zu kreieren und gleichermaßen den Fortgang in die nächsten Level zu erschweren. Square Dance ist in meinen Augen ein besonders schönes Hobby, aber es ist vor allen Dingen besonders. Die Besonderheit hat stets dazu geführt, dass wir bei weitem nicht jeden davon überzeugen können, den Fuß dauerhaft in die Square Dance Szene zu setzen. Für manche ist es die Sprachbarriere, mir wurde der Weggang eines Besuchers mal damit begründet, er müsse sich den ganzen Tag von seinem Chef sagen lassen müssen, was er tun soll, dies möchte er in seiner Freizeit nicht auch noch haben. Wir hatten schon immer das Problem, mit anderen Dingen konkurrieren zu müssen (Video, Videospiele), wie aber viele andere Aktivitäten, zu denen man seine Wohnung verlassen muss. Ich bin seit 1980 dabei und ich habe nicht das Gefühl, dass sich hieran maßgeblich etwas geändert hat. Es mag sich verschärft haben (Stichwort Streaming-Dienste etc). Ebenfalls mussten wir uns der Tatsache gegenübersehen, dass man nach 10 Abenden Tanzschule bereits seinen ersten Ball besuchen konnte. Einigen Dingen kann man entgegenwirken: Zu meinen Berliner Zeiten hatten wir einen Ampel-Dance um die Jahreswende, bei dem die Classes eingeladen waren, in anderen Gegenden gab es meist im Januar Student Parties. Die Student Jamboree wurde nach meinem Dafürhalten schon immer viel zu spät angeboten. Trotz der vielen Versuche, Abwechslung in das Class-Geschehen hineinzubringen, haben sich dadurch kaum die Zahlen der Teilnehmer in den Classes verändert. In einer der vorangegangenen Folgen hattet Ihr einen Rückgang in der Szene angesprochen. Ich glaube, mit solchen Zahlen muss man sehr vorsichtig umgehen. Wir haben es seit Jahren versäumt, Erhebungen zu fahren. In meiner Gegend kann ich keinen wirklichen Rückgang erkennen. Corona hatte einen Beitrag, besonders die laufenden Classes waren dabei als kritisch zu betrachten. Inwieweit Aktionismus bei einer sehr ungewissen Zahlenlage angebracht ist, sei mal dahingestellt. Ich halte nicht besonders viel davon, eine Aufbruchstimmung als einzig wahren Weg deklarieren zu wollen. Kontinuität ist wesentlich wichtiger und effektiver als die Ansage „jetzt müssen wir was machen“.
Wie bereits erwähnt halte ich den Grundgedanken, ein kleineres Einstieglevel zu kreieren, nicht für verkehrt, sofern dieses dann auch gepflegt würde. Da stellt sich nicht unberechtigt die Frage, warum Basic sich als solches nicht flächendeckend durchsetzen konnte. Bei uns Europäern möchte ich mal die Benennung der Programme hinten anstellen, es scheint aber in Gegenden ein Problem darzustellen, „nur Basic“, nur Durchschnitt zu sein. In meiner Aktivität in den MS/Plus Committees bin ich auch in die triannual reviews einbezogen worden. Es hat mich erschreckt bis entsetzt, welche Änderungswünsche dort immer wieder eingebracht worden sind. Neben der fehlenden Sinnhaftigkeit bei diesen Vorschlägen ist sehr stark aufgefallen, dass viele der Mitglieder ihre Löschwünsche mit „diese Figur calle ich nie“, „diese Figur wird nicht gerne getanzt“ etc. begründet worden sind. Die Rettung war, dass nahezu jedes Mitglied andere Wünsche anbrachte und somit war es nahezu vorprogrammiert, dass sich keine Mehrheit finden würde. Diese Erfahrungen mit völliger Planlosigkeit sowie den Mangel an durchdachten Vorschlägen haben mich spätestens vor 25 Jahren davon überzeugt, dass wir Veränderungen ohne Ende vornehmen können, das Grundproblem wird aber weiterhin bestehen. Ihr hattet dies in einer der vorherigen Folgen bereits angesprochen: das absolut Maßgebliche ist die Erziehung, um es ein wenig netter zu formulieren, die Weiterbildung der Caller. Ich lese immer wieder, in Europa wäre alles so toll und hier gäbe es keine Probleme. Ich denke tatsächlich, dass wir hier etwas höriger sind und die Level mehr pflegen. Wer jedoch mit solchen Totschlagargumenten kommt, der ist von vorherein verloren, denn derjenige wird sich kaum die Mühe machen, Dinge zum besseren verändern zu wollen. Wir müssen dabei immer bei uns selbst anfangen. Dies wird zu Rückschlägen führen, na und? Daraus lernen wir und davon wird die Aktivität profitieren. Wie häufig höre ich, dass Figuren wie star thru, california twirl, dive thru etc. aus dem Programm genommen werden sollen, weil es dafür schönere Alternativen gäbe. In der Regel kommen diese Vorschläge von Callern (allerdings auch einigen Tänzern), die es verlernt haben, sich in die Gefühlswelt eines blutigen Anfängers hineinversetzen zu können. Selbst, wenn man sich selbst ggf. bei der eigenen Class nicht so schwer getan hat, ist es ein Mangel an Beobachtungsgabe zu verkennen, wie wichtig Handverbindungen, Handkontakte gerade am Anfang sind. Häufig wird auch mit dem zunehmenden Alter der Tänzer und der eingeschränkten Beweglichkeit argumentiert. Wer bereits am Anfang seiner Square Dancer Karriere die Arme nicht mehr heben kann und/oder sich nicht seicht bücken kann, der sollte ggf. auch auf dieses Hobby verzichten. Jedes Hobby fordert Voraussetzungen ab, die beim Square Dance bereits sehr niedrig angesetzt sind. Sie sollten jedoch meiner bescheidenen Meinung nach nie ganz verschwinden. Die Prämisse, jeder könne unabhängig vom Alter Square Dance machen, ist und sollte nur bedingt richtig sein. Tänzer, die bereits längere Zeit dabei sind, werden für die o.g. Figuren Lösungen finden, ansonsten ist es an uns, Figurenkombinationen so zu wählen, dass ein star thru für alle Tänzer vernünftig tanzbar ist.
Solange wir Caller – unabhängig von unseren eigenen Präferenzen – an uns arbeiten, uns dazu zwingen, unsere Produkte ohne Ausnahme auch zu verkaufen, sollte es uns gelingen, unsere Tänzer über Jahrzehnte unterhalten zu können, ohne dass kaum ein Tänzer das Bedürfnis haben müsste, in das nächste Level abzuwandern. Genau dies ist der Punkt, der mich an den proposal nicht glauben lässt. Warum ist es so schwer, das Potenzial im Basic, Mainstream Programm zu erkennen? Aussagen wie „die Figur gefällt mir nicht, die mache ich nicht“ oder „die Figur aus dem Plus ist toll, die muss ich meinen MS-Tänzern beibringen“, haben vielerorts in den Staaten dazu geführt, dass man als Basic, selbst als Mainstream Tänzer Schwierigkeiten haben wird, sein Level tanzen zu können. Es hat sich ein soft Plus „etabliert“, bei dem man sich aber langsam vortasten muss, welche Plus Figur in welcher Region zu diesem soft Plus gehört und welche nicht. Wie kommt man jetzt auf die Idee, dass die überwiegende Mehrheit, die für ein solches Vorhaben erforderlich sein muss, sich entsprechend anpassen und verändern wird?
Ted Lizotte hatte sein Unverständnis angemerkt, warum man für MS ein Paket von knapp 70 Figuren angeboten bekommt, für Plus jedoch nur knapp 30. Man kann dies natürlich so sehen, ich habe dies nie so gesehen. Auf jede Plus Figur, die ich neu gelehrt habe, habe ich zwei Figuren aus dem MS Programm wiederholt und vertieft geworkshopped. Das macht bei mir 90 Figuren. Ein nicht zwingend auf alle von uns übertragbarer Ansatz, aber durchaus ein denkbarer.
Als T-2000 „diskutiert“ wurde, ging es zwar primär darum, kleinere Einstiegslevel anbieten zu können, dies wurde aber stets in Verbindung damit gebracht, mehr Classes im Jahr anbieten zu können, anstatt die nun ggf. gewonnene Zeit dazu nutzen zu wollen, auf viele Aspekte, die ansonsten in den Classes zu kurz kommen, mehr Gewicht zu legen, den Zeitdruck ein wenig aus den Classes zu nehmen etc. Ich möchte hier niemanden zu nahe treten, es stellt sich mir aber die Frage, warum derartige Vorschläge von Callern kommen, die von dieser Aktivität leben müssen. Ob die „Masse“ der Aktivität hilft, wage ich zu bezweifeln. Ich hätte es begrüßt, in der bisher zur Verfügung stehenden Zeit (September bis Juni) anstatt 70 nur 50 Figuren beibringen zu müssen. Zumindest dann, wenn wir diesen Tänzern anschließend die Möglichkeit gegeben hätten, auf diesem Level auch weitertanzen zu können.
Schweden hat in den 80’er Jahren, die auch den Beginn des Square Dances dort ausgemacht haben, viel Wert darauf gelegt, Basic innerhalb eines Jahres zu teachen. In dieser Zeit galten die Schweden als die besten Square Dancer weltweit. Von diesem System hat sich Schweden bereits Ende der 80’er zunehmend entfernt und als ich Anfang der 90’er meine ersten Tänze in Schweden hatte, war dieses Prädikat kaum mehr erkennbar. Seither habe ich den Verfall dieser Szene in den skandinavischen Ländern in einer erschreckend kurzen Zeitspanne beobachten müssen. In Dänemark hat man leider das schwedische Konzept übernommen, permanent Classes anzubieten und den Tänzern nicht die Möglichkeit zu geben, sich auf einem Level mal ein paar Jahre ausruhen zu können und hier war der Untergang noch wesentlich extremer zu beobachten. Es erscheint nahezu aussichtslos, ein Konzept zu verfolgen, wenn man der einzige ist.
Es mag sein, dass Tänzer es kaum merken werden, wenn man bestimmte Figuren an vereinzelten Abenden gar nicht gecallt. Sie werden es ggf. weder vermissen noch merken. Wir sollten allerdings davon Abstand nehmen zu glauben, die Tänzer würden derartig große Veränderungen nicht mitbekommen. Die Vereine werden zumindest in Kontinentaleuropa wesentlich durch Vorstände geführt, die regelmäßig über mehrere Jahre Tanzerfahrung verfügen. Dies sind nicht selten genau die Personen, die bei einem Special dafür Sorge tragen, das Plus, A1, A2 und sogar C angeboten wird. Das muss nicht unbedingt ein reiner Egoismus sein, das eigene Level auf dem eigenen Special tanzen zu können. In einigen Fällen mögen auch – zugegebener Weise etwas in Zweifel zu ziehende – wirtschaftliche Argumente ausschlaggebend sein. Wie groß ist aber dann die Wahrscheinlichkeit, dass die Vereine sich dazu entschließen, auf 20 Figuren „verzichten“ „zu müssen“ oder aus Abwanderungsängsten sich nicht dazu entschließen werden, eher die fehlenden 30 Figuren allen antuen zu wollen? Kaffeesatzlesen, ja, aber nicht weltfremd!
Ihr habt zunächst recht, dass die Frage bzgl. der standard bzw. extended applications nicht Bestandteil des proposals ist. Es wäre jedoch vermessen zu behaupten, dass diese Aspekte nicht unerheblich wichtig sein werden und in die Planung einzubeziehen sind. Hier hat es sich Ted m.E. ein wenig zu einfach gemacht. Es mag ok sein, wenn er hiermit zunächst Denkanstöße setzen wollte. Die Ernsthaftigkeit dahinter lässt aber mehr vermuten und dann ist es nicht verwunderlich, dass einige weiter denken, weiter denken wollen. Was Standard und was Extended ist hat die Gemüter seit Anbeginn bewegt. Ziel sollte es doch eigentlich sein, den Tänzern ein so abwechslungsreiches Programm bereits auf den Clubabenden anzubieten, dass kaum einer das Verlangen verspürt, in das nächste Level abzuwandern. Dies wird nie in jedem Fall funktionieren, vielleicht schaffen wir es aber, dass diese Tänzer sich nicht vom Einstiegslevel abwenden, sondern diese Vereine weiterhin unterstützen. Vielleicht auch, weil es auch dort so abwechslungsreich zugeht. Würden wir alle an einem Strang ziehen und uns so verhalten, würde sich die Grenze zwischen Standard und Extended verschieben. Sie ist ohnehin dynamisch und bedarf je nach Region und/oder Verein bereits heute einer Anpassung. Hier ist Urteilsvermögen gefragt, wie immer.
Dies sind meine bescheidenen Gedanken zu diesem Thema. Ohne den unbedingten Anpassungswillen eines jeden (!) Callers werden derartig drastische Veränderungen nicht funktionieren und hieran habe ich meine nicht ganz unbegründeten Zweifel. Will man Parallelwelten schaffen, so soll dies so sein. Ich fand dies bei T-2000 Käse und heute sieht es nicht anders aus. Die Vereinheitlichung der Programme in den 70’ern hat dazu geführt, dass man Square Dance irgendwo lernen kann und überall auf der Welt tanzen. Ich musste meinen Tänzern leider schon recht früh mitteilen, dass sie zumindest Plus tanzen können sollten, um möglichst unabhängig in den Staaten tanzen zu können. Auf uns hat sich dies insoweit erweitert, dass Plus bei vielen Specials mittlerweile ein zeitlich nicht unwesentlicher Bestandteil der Programme ist. M.E. muss hieran gearbeitet werden. Wir müssen uns zwingen, die Programme zu pflegen, auch wenn wir die eine oder andere Figur nicht mögen. Wir müssen diese so verpacken, dass das Angebot gerne angenommen wird. Dem Tanz mehr Bedeutung geben ist dabei „nur“ ein Mosaiksteinchen, das zu berücksichtigen ist.
Liebe Grüße
Stefan